Ideen zum Symposium
Völker und Sprachen: Kulturelle und linguistische Klassifikationen
In der öffentlichen Meinung werden die Begriffe "Volk" und "Sprache" oft sehr eng aufeinander bezogen. Heutige Sprach-, Geschichts- und Kulturforschung mahnt jedoch zur Vorsicht: Sprachgemeinschaften decken sich häufig nicht mit kulturellen oder politischen Gemeinschaften, nicht alle Völker verstehen sich selbst in erster Linie von der gemeinsamen Sprache her, nicht immer gehen kulturelle Verschiebungen mit Wanderungsbewegungen und sprachlichen Verschiebungen einher. Gleichwohl darf die berechtigte Skepsis nicht dazu führen, dass die Disziplinen einander nichts mehr zu sagen haben. Linguisten, Archäologen, Philologen und Historiker sind deshalb eingeladen, darüber zu berichten, wie sie von ihrer Disziplin her zu diesem Thema stehen.
Fragestellungen können z.B. sein:
- Wie gehen wir heute mit der Terminologie unserer Handbücher um ("die Hethiter", "die Schnurkeramiker", "Wanderungen", "das Vulgärlatein" ...)?
- Welches Selbstverständnis lässt sich aus Textzeugnissen oder sprachlichen Schlüsseltermini einer Sprachgemeinschaft ablesen? Ebenso: welches Fremdverständnis?
- Wie lässt sich einer Kultur eine Sprache zuordnen? Und umgekehrt: Wie stringent lässt sich von einer Sprache auf eine dahinterstehende materielle Kultur schließen? Geht dies ohne Rekurs auf politische Ordnungen?
Die Fragestellungen sind nicht neu, lassen uns aber nicht los. Um eine fundierte Balance zwischen Skepsis und Zuversicht zu erreichen, ist ein Einblick in den Diskussionsstand und die Terminologie der Nachbarfächer dringend nötig. Das vom MZAW und ZhS gemeinsam ausgerichtete Symposium möchte die Diskussion dazu anstoßen.
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Weitere Ideen:
Robert Zydenbos
Menschen fühlen sich durch Verschiedenes miteinander verbunden: z.B. durch Familie, Herkunftsort, Religionszugehörigkeit, aber die Sprache ist ein besonders starkes soziales Bindemittel. Weil die Sprache das mit Abstand wichtigste Kommunikationsmittel der Menschen überhaupt ist, liegt es auf der Hand und ist es vollkommen natürlich, dass der Mensch sich mit der Sprachgemeinschaft besonders verbunden fühlt.
Es scheint aber auch üblich zu sein, dass man sich vorstellt, dass was die Menschen hier verbindet nicht nur die Sprache an sich, sondern mehr als ‚nur‘ die Sprache ist: dass es etwas gibt, wovon die Sprache nur ein Aspekt oder ein Symptom ist. Von diesem Gedanken ist es nur ein sehr kleiner Schritt zu einer Vorstellung eines sozialen Kollektivs irgendwelcher Art, eines ‚Volkes‘, das u.a. eine gemeinsame Sprache besitzt. Inwieweit solche Völkervorstellungen wirklich zutreffen, ist nicht immer deutlich und oft eine sehr kontroverse Sache. Aber die Sprache, und Vorstellungen über die Sprache, machen einen wichtigen Teil der sozialen und kulturellen Identität deren Sprecher aus.
Es gibt weit verbreitete Vorstellungen über die inhärenten Qualitäten von vereinzelten Sprachen, die einen mystifizierend folkloristischen Charakter haben. So soll z.B. das Sanskrit devabhāṣā, die ‚Sprache der Götter‘ sein, soll das Französische ‚klar und wissenschaftlich‘ sein, soll das Deutsche ‚seelische Tiefe‘ besitzen, und soll das Englische ‚die erwählte Weltsprache‘ sein. Solche eher mythische Vorstellungen halten rational nicht stand. Aber das bloße Vorhandensein solcher Vorstellungen deutet schon an, dass im Empfinden sehr vieler Menschen Sprache einen besonderen Charakter hat, der angeblich auch den Charakter von Sprachgemeinschaften bestimmt, und so wird die Selbst- und Fremdwahrnehmung, sei es auch schwach oder gar nicht begründet, mit beeinflusst.
Dass Sprache ein besonders potentes Politikum sein kann, ist ausreichend bekannt: Sie kann ein antreibender Faktor für die politische Einigung oder Spaltung von Ländern sein, und die Geschichte des politischen Nationalismus bietet zahlreiche Beispiele für beides. Auch kann Sprache ein Faktor für die politische Reorganisation innerhalb von Ländern sein, ohne dass dies zu nationalstaatlichen Spaltungen führt (z.B. in Indien). In all solchen Fällen spielen in gewissem Maße mythische Vorstellungen über die die jeweiligen Sprachen sprechenden ‚Völker‘ eine Rolle. Besonders ausgeprägt ist diese Wirkung von Sprache und von Vorstellungen über Sprachgemeinschaften im Falle solcher Sprachgemeinschaften, die in geografisch kleineren Gebieten beheimatet sind und eine stark einheitliche sozio-politische Geschichte haben.
Der Mythos der unterliegenden Kraft einer Sprache, die Menschen auf besondere Weise miteinander verbindet, kann viele unterschiedliche Formen annehmen, kann konstruktiv (Menschen miteinander verbindend) oder zerspaltend (Menschen auseinander treibend) sein. Ein Vergleich von verschiedenen Sprachmythen könnte etwas Allgemeines über die bindende Kraft von Sprache, und darüber, wie Menschen sich mit der Sprache verbunden fühlen, aussagen.
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Walther Sallaberger / Peter-Arnold Mumm
Sprachwissenschaft, Archäologie und Geschichtsschreibung erschließen sich unterschiedliche und scheinbar inkommensurable Aspekte menschlicher Gemeinschaft. Archäologische Funde reden nicht, rekonstruierte Wortformen liegen nicht in der Erde, Sprachgemeinschaften sind nicht automatisch kulturelle oder politische Gemeinschaften. Politische Gemeinschaften sind oft mehrsprachig, und die Genealogien, die sie sich geben, sind in der Regel fiktiv. Inszenierte Identitäten mögen geglaubt werden, sie werden aber auch, wenn mit Macht ausgestattet, gewaltsam gegen abweichende Zugehörigkeitsüberzeugungen durchgesetzt und gebären dann neue kulturelle Narrative oder bleiben als oktroyierte Identitäten neben dem überkommenen Identitätsbewusstsein bestehen.
Die Wissenschaft ist also skeptischer geworden. Sie setzt mit guten Gründen Sprachgemeinschaften schon lange nicht mehr mit „Völkern“ oder „Ethnien“ gleich, sprachliche und kulturelle Verschiebungen nicht zwingend mit „Wanderungen“ und ruft auf, „Pots and People“ aus methodischer Vorsicht zu trennen.
Aber Sprachgemeinschaften haben ihren Raum und bilden sich nicht unabhängig von Siedlungs-, Handels- und Eroberungsbewegungen aus. Materielle Kulturen haben ihre Träger, die in ihnen eine Form von Selbstverständigung pflegen.
Die Skepsis gegen unreflektierte Gleichsetzungen von Sprachen, Kulturen und Völkern darf nicht zu einer Ausblendung der Tatsache führen, dass auch nur fragmentarisch zugängliche Lebenswirklichkeiten Lebenswirklichkeiten sind, die als solche erschlossen werden wollen. Welche Wege finden wir dahin?
Das Symposion will zu dieser Frage anregen. Linguisten, Archäologen, Philologen und Historiker sind eingeladen, darüber zu berichten, welche Fenster auf die hinter ihren Gegenständen stehenden umfassenderen Lebenswirklichkeiten sie von ihrer Disziplin aus öffnen können.